Stephan Rätsch

Puppenspieler

 

 

Wir brauchen einen Drachen

»Eine Geschichte vom geraden Weg und einem kleinen Mädchen, das an einem Drachen vorüber muss, will es vor der Nacht wieder zu Hause sein…«

Ich bin Diplom-Puppenspieler, ich baue Bühnenausstattungen, Öfen und Objekte. Ich lebe auf einem einsamen Gehöft mit meiner Lebensgefährtin und meinen Kindern, ein paar Tieren und vielen Bäumen. Je nach Auftragslage bestelle ich einen kleinen oder großen Gemüsegarten  – aber niemals Keinen.

Seit 1992 bin ich frei unterwegs, zuerst mit Traktor und Theaterwagen als »Theater Schneckenreiter«, jetzt allerdings fahre ich meist mit dem Automobil an beinahe jedem gewünschten Ort, der für eine Aufführung würdig gemacht werden kann. Das kann eine Wiese, die Werkstatt, das Wohnzimmer, große und kleine Galerien und natürlich das Theater sein. Ich erzähle dann dort Geschichten nah am Leben – weit weg von Gut und Böse und anderen Klischees. Dazu benutze ich Märchen und Geschichten aus aller Welt, in freiem Schauspiel mit Puppen, Fundstücken und Apparaturen.

Ich studierte das Animationstheater an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin, die Fachrichtung Puppenspiel. Geduld und Beobachtung lernte ich vorher in der Schäferlehre.  Mein bildnerisches Talent stammt wohl aus meinem Bildhauerelternhaus. So arbeite ich in eigener Regie und Ausstattung und fertige für andere Theater und Darsteller Ausstattungen, Bühnen und Figuren an.
Ich führe nach meinen Aufführungen besondere Nachbesprechungen durch. Kinder wie Erwachsene können die Bühnen und Requisiten ausprobieren und mit den Puppen spielen. Dabei entstehen viele Gespräche über technische Raffinessen, Stückinhalte, eigene Erfahrungen und Minidrachen mit Hut.

Ich habe an meinem Wohnort in Passentin eine alte Scheune mit viel Liebe zum Detail, zu einem Theater umgebaut.

Es geht mir gut und ich vermute, das ich bin deutlich weniger als viele andere von den Folgen der Corona Pandemie betroffen. Ich lebe in (fast) Alleinlage und habe auf meinem Gehöft viel zu tun. Selbst wenn wir diesen Ort nicht verlassen dürfen oder die Kinder im homeschooling sind, können wir immer rausgehen, die Natur genießen und uns austoben.
Es ist normal, dass die Zeit von Januar bis März eine Theater-Ruhephase ist. Ich erledige dann das, was übers Jahr liegen geblieben ist.

Anfang 2020 gründete sich der Verein »simsalArt e.V.« hier in Passentin. Wir haben trotz Corona viele Veranstaltungen durchgeführt und wir sind mit dem Kulturmobil Neulandgewinner geworden. Da gab es viel zu tun. 2021 begannen wir mit dem Projekt, das Mobil muss gebaut werden und  nun fährt es über die Dörfer mit bedarfsgerechten Angeboten extra für den ländlichen Raum. Ich habe mit und ohne Corona immer sehr viel zu tun. Ich schaffe es nicht, ein neues Stück zu machen, obwohl ich es sehr gern würde.

Vor 2019 habe natürlich viel mehr Theater gespielt und der Bau von Ausstattungen, Bühnen, Fenstern, Türen, Öfen war zweitranging. Über die Jahre ist ein festes Theater Repertoire entstanden und nach und nach habe ich zu den Stücken »Werkstätten« entwickelt. Dadurch sind Kombinationsangebote möglich – erst das Theaterstück ansehen und dann mit den Zuschauern etwas gemeinsam erschaffen.

Jetzt baue ich viel mehr Ausstattungen, Öfen, Fenster und Objekte und spiele viel weniger Theater. Ich bin sehr breit aufgestellt und dadurch weitestgehend ohne Förderungen ausgekommen. Ich muss mich selbst nicht um »Arbeit« bemühen, weil von vielen Seiten Aufträge auf mich zukommen.

Meine indoor-Stücke habe ich schon lange nicht mehr gespielt. Einige meiner Stücke sind auch outdoor spielbar. In der Zeit, als das ging, spielte ich draußen. Die Sommermonate waren sehr voll. Alle haben versucht etwas zu machen.

Für viele Veranstalter, aber auch Privatpersonen, ist die Planungssicherheit weggebrochen. Deshalb habe ich auch jetzt deutlich weniger Anfragen für Theaterprojekte. Wenn dann »was geht«, überschlagen sich die Angebote regelrecht.

Unsere Vereinsaktivitäten liefen anfangs weiter, sind inzwischen aber fast komplett zum Erliegen gekommen. Wir führten verschiedene Projekte durch, vom Kulturmobil erzählte ich ja vorhin schon ein bisschen. Andere Projekte hatten einen sehr schwierigen Verlauf.

Aber Corona ist auch nicht an allem schuld. Es macht uns träge und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht daran gewöhnen, ohne Kultur und Gemeinschaft zu leben. Wichtig ist, die Möglichkeiten die wir haben, auszuschöpfen und Dinge trotzdem zu tun, wann immer es eben geht.

Ich musste mich in meinem bisherigen Leben immer wieder auf neue Situationen einstellen und an das Nötige und das Mögliche anpassen. Das war auch vor Corona so. Jetzt aber entstand auch für mich durch die Vereinzelung eine Überforderung. Die natürliche Begegnung macht es einfacher, wenn dass Feuer sich entzündet und der Funke überspringt. Die Vereinzelung führt in die Depression. Ja, es rückte immer dichter auch an mich heran. Ich brauche viel Kraft nicht in eine Depression zu rutschen. Es war und ist schwierig für mich, weiter zu machen, wenn die Aufführungen verschoben oder abgesagt werden. Besonders tragisch ist das natürlich für unsere eigenen Projekte, Veranstaltungen und Vorhaben.

Das digitale Theater ist weit weg von Theater. Es ist nur ein Versuch, nicht alles aufzugeben. Ich habe auch eine digitale Aufführung gespielt. Aber das ist keine Option für mich. Wenn ich Theater spiele, dann brauche ich das Publikum. Wenn Menschen meine Stücke sehen, brauchen sie mich live. Meine Stücke leben von der Publikumsnähe, sie sind darauf ausgerichtet.

Den veränderten Alltag habe ich hier draußen auf dem Land weniger mitbekommen. Am frustrierendsten ist für mich die »nicht Absehbarkeit«. Zu Beginn konnte ich Corona auch einiges Positives abgewinnen. Ich fand es toll, meine Kinder im homeschooling zu betreuen und bin viel weniger Auto gefahren. Die Kinder und ich konnten Werte wie Schule und Gemeinschaft neu wahrnehmen. Ich habe die Ruhe in meinem Leben genossen!

Wenn ich Stücke lange nicht spiele, ist die Wiederaufnahme mit sehr aufwändigen Probenarbeiten verbunden. Aufwand und Nutzen stehen dann in keinem Verhältnis mehr. Ich brauche viel Kraft und Zeit, um indoor-Stücke open air fähig zu machen.

Im Moment rettet mich meine Vielseitigkeit.

Mir macht der politische Gehorsam Angst. Vor allem die Spaltung der Gesellschaft in gut und böse, falsch und richtig möchte ich nicht unterstützen. Ich finde es sehr sinnvoll mich da rauszuhalten, auch wenn es mir schwerfällt. Die Präsenz von Corona ist überall, es wird fast nur noch darüber gesprochen. Das nervt mich echt.

Ich lebe mit meiner Lebensgefährtin und mit meinen Kindern und sehe wie sie größer werden. Wir haben mit dem Hof, dem Gemüse- und Obstgarten, dem Theater und den Werkstätten eine Basis geschaffen für ein gutes Leben. Das gibt mir Kraft. Mein Bruder wohnt zehn Autostunden von mir entfernt. Seitdem er Vater geworden ist, besuche ich ihn öfter. Mein erstes Enkelkind ist geboren. Das hat die Beziehung zu meinem Sohn intensiviert und auf ganz neue Füße gestellt.

Menschen, die trotzallem weitermachen berühren mich! Die Begleitung meiner Kinder durch diese Zeit, in der eine Maskenpflicht in der Schule besteht, sie ihre Freunde nicht sehen können und inzwischen Menschen kennen, die an Corona gestorben sind. Das macht ja auch bei ihnen die Angst größer. Ich frage mich: Was kann man aus der Zeit jetzt machen? Wie kommen wir da wieder raus? Meine Gedanken reichen soweit, dieses Land zu verlassen, wenn das Leben weiter so einfriert.

Ich finde, dass Angst unproduktiv ist und versuche selbst nicht in die Angst zu kommen. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft und jeder einzelne Menschen sich von der Angst befreien. Natürlich schützt uns die Angst auch. Ein gesunde Maß ist erforderlich. Ich wünsche mir einen klaren Blick zu behalten und realistisch zu agieren. Ich wünsche mir viele mutige Menschen. Ich frage mich auch, wonach uns die Folgegenerationen messen werden. Ich möchte mehr anarchistische Wege gehen und auf mein eigenes Gefühl hören. Ich möchte über Theater und Werkstätten Freude und Mut verbreiten und unbedingt wieder tanzen. Ich wünsche mir den Aufbau einer neuen echten Kultur, gemeinsames Singen und gemeinsame Rituale.

Kinder lernen nur singen, wenn sie singen, nicht, wenn sie es im Radio hören.

Ich möchte den Ort Passentin weiterentwickeln, mehr für die Seele tun und viel mehr Austausch haben.