Coco Radsack

Silberschmiedin

 

Das war knapp

Dem ersten Lockdown konnte ich relativ gelassen begegnen. Ich hatte als Künstlerin hohe monatliche Kosten in meiner Werkstatt und dem Kunstkaufhaus, im Stadtzentrum von Schwerin. Diese Betriebskosten wurden fast komplett übernommen/ersetzt. Gut, für einige Monate kann man das gern hinnehmen. Dass mein persönliches Leben nicht unterstützt wurde, erstaunte mich stark  und verunsicherte mich kurzzeitig auch heftig. Dann kam der Moment, in dem ich mich einfach der Situation ausgeliefert habe. Laden zu, Werkstatt zu… und …

Punkt.

Die ersten vier Wochen musste ich um Positionen und einen neuen Stand ringen. Plötzlich waren so viele Fragen da und die erstaunlichsten Informationen und Geschichten trafen mich von allen Seiten. Meine Freundinnen und Freunde – oft auch Selbstständige – waren aufgebracht und standen teilweise vor dramatischen Lebensveränderungen. Gerade im künstlerischen Bereich dauert es oft Jahre, funktionierende Existenzgrundlagen aufzubauen. Große Rücklagen können nur wenige Künstlerinnen bilden. Wenn so viele Projekte unter spektakulären Umständen schließen müssen, weiß ich, ob die Galerie überlebt, wo ich nächstes Jahr ausstellen wollte? Gibt es meinen Edelsteinhändler in drei Monaten noch? Kann mich die Holzbildhauerin noch beliefern, oder arbeitet sie an der Kasse im Supermarkt, statt in Ihrer Werkstatt? Wenn plötzlich lange erprobte Zusammenhänge und gewachsene Strukturen wegbrechen, muss ich mich vollständig neu erfinden und neu ausrichten.

Hier verändert sich etwas fundamental. Ein irrer Druck lastete plötzlich auf den Selbstständigen. Dem wollte ich ruhig und gelassen begegnen.

Ich öffnete die Tür zu meinem Atelier zu Hause und legte mein Lieblingspapier auf den Tisch. Ich schraubte die japanischen Tuschen auf und begann zu malen. Die Farben zeigten sich schnell. Ich begann mit der Suche des ganz Kleinen im ganz Großen. Es war wie die Suche nach dem Woher und Wohin. Wie eine Sehnsucht, das zu verstehen, was gerade passierte, es zusammenzusetzen. Ich malte mit dicken Pinseln und zeichnete mit feinsten Federn.

Immer wieder stellte sich mir die Frage, was zeigt sich da? Was müssten wir verändern? Warum passiert das? Die Thematik um das Sterben der Menschen hat mit tief berührt.  Wer steckt sich schnell an, wer nicht? Was müsste man tun, um sich zu schützen?  Ich wollte plötzlich einfach mehr wissen und Hintergründe erkennen und verstehen.

Diese Zeit habe ich als einen echten Raum für Öffnung in Erinnerung. Ich war jeden Tag dankbar, dass ich so intensiv und so ausdauernd in meiner eigenen Werkstatt arbeiten konnte. Nichts hat mich von meiner Suche und von meiner Innenwelt abgelenkt. Was für ein Geschenk!

Der zweite Lockdown begann kurz vor Weihnachten und traf mich hart. Alle Kunsthandwerker und viele Künstler bereiten sich lange vor der verkaufsintensiven Zeit im Dezember gezielt vor. Da wird im Herbst Material geordert, organisiert, transportiert und alljährlich neue Projekte erdacht. In meinem Fall bedeutete das, für die Mitarbeiterinnen, die zuarbeitende Künstlerinnen und für die Kunden zu organisieren, vorauszudenken und einzukaufen. Die Zahlen, mit denen ich arbeitete, waren dann immer vierstellig und ich ging wie andere Künstler, Galeristen und Ladenbetreiberinnen auch, jedes Jahr ein nicht abzuschätzendes Risiko ein. Ich hatte also gerade sehr viel Geld investiert und dann war das Kunstkaufhaus auf einmal zu.

Punkt.

Wieder wurde mir in Aussicht gestellt, dass die Fixkosten unterstützt werden würden, mein Lebensunterhalt nicht. Schließlich wurden 60% der laufenden Betriebskosten erstattet. Ich musste die Anträge dafür mit in einem vierstelligem Betrag bezahlen. Und hatte in das Weihnachtsgeschäft investiert!

Nicht wütend werden – ging eigentlich nicht!

Ich sage seitdem immer: 60% von ganz viel – ist ganz wenig. 

Meine 90-jährigen Eltern haben meine Werkstatt und mein Kunstkaufhaus in Schwerin mit einigen tausend Euro unterstützt und so konnte ich diesen einzigartigen – in 13 Jahren aufgebauten – lebendigen Ort erhalten.  Ohne meine Eltern wäre das nicht möglich gewesen! Es gab keine Möglichkeit, dafür ausreichend Unterstützung zu beantragen. In den zweiten Lockdown bin ich bereits ohne Ersparnisse gegangen. Die waren im ersten Lockdown vollständig aufgebraucht. Mein privates Leben konnte weitergehen, aber nur, weil ich in einer großen Familie lebe, nicht mehr für Kinder sorgen muss und keine Winterstiefel brauchte.

Ich habe unzählige Anträge geschrieben, in unzähligen Arbeitstagen, für unzählige Kunstprojekte, Stipendien und Unterstützungen. Meistens habe ich nicht mal eine Antwort auf meine Schreiben erhalten. Keiner meiner Anträge ist genehmigt worden.

In meinem Atelier konnte ich an die Zeit vom letzten Winter anschließen und mehrere farbigen Objekte fertigstellen. Ich habe dabei leise Musik abspielen lassen und dann angefangen, Vorträge zu hören, um mich ein wenig zu bilden. Was ist eigentlich los auf der Welt und was bedeutet das Alles? Was gibt es für unterschiedliche Meinungen und Ideen? Was sind Viren und welche Erfahrungen gibt es damit? Eigentlich hat mich fast alles interessiert. Was sagen Ärzte? Was sagen Politiker? Was sagen berühmte Männer und Frauen? Pandemieforscher? Bücherschreiber? Wie leben die Menschen damit.

Im Laufe der ersten Wochen hatte ich das Gefühl krank zu werden. Nicht von innen her, sondern durch die drückende Stimmung des ganzen Umfeldes. Die großen Grabenkämpfe begannen. Es gab offiziell gute und schlechte Menschen. Sie wurden auch in schlaue oder verblödete geteilt und später folgten dann noch die Schuldigen, die Aggressiven und die, die immer Recht hatten. Ich brauchte zwei Monate, um diese widerlichen und besserwissenden Gesprächs- und Gedankenebenen zu verlassen. Zwischendurch hatte ich das Gefühl zu implodieren. Ich war manchmal etwas verwirrt und konnte nicht fassen, was zwischenmenschlich passierte. Ich fühlte mich in die letzten Monate der DDR versetzt. Das darf man nicht sagen, das darf man nicht ansprechen, nicht fragen.

Aber viel Bildung hilft viel. Nach und nach kamen neue Töne, neue Bücher, einfach der Blick über den Tellerrand. Nein, ich will niemals ein Teil der aktiven Spaltung von irgendwelchen Menschengruppen oder der Gesellschaft sein. Auch maße ich mir nicht an, anderen Menschen mein Lebensmodell aufzuzwingen.

Ich stehe nach einigen Wochen im Durcheinander wieder gerade und kompromisslos auf meinem eigenen Pfad. Das Malen, die Arbeit im, durch meine Eltern und meine Kinder geretteten Kunstkaufhaus, die vielen Begegnungen und Gespräche mit Kunden, Freunden, Wildfremden und meiner Familie haben geholfen und mich begleitet. Die künstlerische Arbeit ist wieder mein Zentrum. Das bedeutet, ich schaue hin und wage einfach Alles zu erforschen. Ich frage Alles, ich denke Alles und ich fange damit auch gleich im entsprechenden Moment an. Ich bediene mich der schöpferischen Kräfte in Allem was ich tue. Wenn etwas mit meinem inneren Wesen nicht zu vereinen ist, wende ich mich ab. Wenn ich ein Nein spüre, lebe ich es. Wenn das Ja aus ganzem Herzen kommt, bin ich dabei. Ich übe jeden Tag, den anderen Menschen zu hören, zu verstehen und ein Mitgefühl für seine Ansichten zu entwickeln.

Im Kunstkaufhaus habe ich mit den mitarbeitenden Gefährtinnen neue Wege erprobt und beschritten.

Wir sind ein gutes Stück näher aneinander herangerückt. Natürlich haben wir auch diverse Brückenschläge zur Digitalisierung und Vernetzung gedacht und realisiert. Genauso natürlich reden wir über Zoom mit anderen Künstlern und schicken einfach auch das verrückteste Paket für enorm viel Porto durch die Bundesrepublik.

Aber einfach gar nichts ersetzt den direkten Kontakt zu den Menschen.

Gerade, wenn es um Kunst geht. Wir sprechen und drücken dabei die Gefühle aus, die das Kunstwerk in sich trägt. Wir tasten uns vorsichtig heran, an Wohnräume, die an den Wänden ein großes bewegendes rotes Bild brauchen oder einfach nur das leuchtende gelbe Licht, welches durch breite schwarze Pinselstriche fällt. Die Menschen erzählen ihre Geschichten und kramen in ihren Erinnerungen. Erkennen etwas im Bild und streichen auch mal über die Leinwand. Kunst kaufen und  Kunst verkaufen ist absolut kein Vorgang »im Netz«. Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre zeigen das deutlich! Es ist die Aufnahme einer kurzen spannenden Beziehung zwischen Künstlerin, Kunde und Verkaufendem. Es ist ein sinnlicher Moment.

Ich habe seit Beginn des Jahres 2020 viel gelernt. Das Erstaunlichste, vieles wusste ich schon mal!  Wieso war das eigentlich weg? Ich lebe jetzt viel mehr eine, meine, echte Essenz. Und, ich bin ansteckend!